Über die TCM und chinesische Sichtweise der Welt

Die traditionelle chinesische Medizin geht schon seit einigen Jahrtausenden von den Erkenntnissen über menschliche Wesen wie von einem Mikrokosmos aus, der vom All umgeben ist. In einer einmaligen Verbindung innerer und äußerer Beziehungen, genannt Tao, verbergen sich sämtliche Vorgänge des menschlichen Seins. Während die westliche Kultur im 17. Jahrhundert die Trennung von Geist und Körper sowie von Mensch und Natur durchsetzte, besteht die chinesische Medizin weiterhin auf ihren Prinzipien, die uns Mitteleuropäern im besten Fall sehr interessant erscheinen. Während unsere Ärzte die chinesische Medizin als Scharlatanerie betrachten, erkennt der chinesische Arzt an, dass bestimmte chirurgische Eingriffe oder Akutmedizin unverzichtbar sind. Die chinesische Medizin zeigt sich allen neuen Richtungen und Vorgängen gegenüber sehr offen und verlässt sich nicht nur auf tastbare und messbare Parameter, wie das bei der westlichen Medizin der Fall ist. Was weder messbar noch sichtbar ist, hat die gleiche Bedeutung wie das, was messbar und sichtbar ist. In der chinesischen Medizin ist Qi der Schlüsselbegriff, wohingegen in der westlichen Medizin Qi überhaupt nicht existiert, da es ohne Materie und somit nicht messbar ist.

Das chinesische medizinische Wörterbuch benützt Metapher aus der Natur wie Feuer, Erde, Holz, Metall, Wasser, Wärme, Wind oder Kälte. Die chinesischen Termine unterscheiden sich aber von der allgemeinen Bedeutung dieser Worte. Herz bedeutet nicht das anatomische Organ im Brustkorb, sondern es ist damit das Herz als steuerndes inneres Organ gemeint, in dem gleichzeitig auch Seele und Geist des Körpers wohnen. Ein zeitgenössischer Gegner der Akupunktur äußerte zum Beispiel, dass keine Akupunkturbahnen existieren, denn bei der Sezierung einiger Hundert Gottloser sezierte er niemals eine Akupunkturbahn. Dazu lässt sich nur hinzufügen, dass er bei einer Hirnsezierung auch noch nie einen Gedanken sezierte.

„Mit dem Spatz am Gartenzaun diskutiere nicht über die Weite des Himmels, mit dem kleinen Fisch in der Pfütze streite nicht über die Größe der Flüsse und Ozeane.“ Wir diskutieren komplizierte und anspruchsvolle Probleme nicht mit jemandem, der nicht fähig ist auf entsprechende Weise zu denken. Der Wind, der in den Baumkronen weht, ist nicht der gleiche Wind wie der, unter dem man in der chinesischen Medizin pathologische ungünstige Einflüsse versteht. Das, was die äußere Welt bewegt, bewegt auch uns, Subjekt und Objekt sind die zwei Aspekte dieser Welt. Die chinesische Denkweise bestimmt keine strenge Grenze zwischen Ruhe und Bewegung, Zeit und Raum, Gedanken und Materie, Krankheit und Gesundheit und überschreitet damit die westliche Vorstellung von Medizin.

China können wir wie einen Staat im Staat betrachten, der sich auf seine Weise hinter verschlossenen Türen entwickelte. Er genügte sich selbst und brachte dabei der Welt eine Menge neuer Entdeckungen (besser gesagt wurden diese Entdeckungen der Welt in vielen Fällen über nicht ganz legale Wege gebracht). Wir werden nicht aufzählen, worauf die Chinesen vor den übrigen „entwickelten“ Ländern kamen, da viele dieser Entdeckungen bis heute noch nicht „entdeckt“ und bewertet sind. Dazu gehört die traditionelle chinesische Medizin, welche die Chinesen als ihren Staatsschatz betrachten, wie etwas, was ihnen niemand nehmen wird und nehmen kann, denn über die entsprechende Art zu Denken verfügen nur die Chinesen, und das nicht einmal alle. „Die weißen Langnasen“, wie wir häufig genannt werden, werden niemals die Chance haben, diese Weltanschauung, Betrachtung der Natur, des Menschen, der Gesundheit und Krankheit zu begreifen, da wir in einem völlig anderen Geist und Umfeld erzogen werden. Es existieren natürlich auch Ausnahmen unter den „weißen Langnasen“, und diese werden von den Chinesen sehr geschätzt, denn derjenige, der ihre Denkweise und ihre Philosophie versteht, muss genauso geprägt sein (war er vielleicht in einem früheren Leben ein Chinese?) und bekennt sich zu den gleichen Werten wie sie. Ihre Ergebenheit und Freundschaft, die in China über alles steht, ist dann nahezu unbegrenzt.

Man könnte fast glauben, ein jeder Chinese sei ein Kenner der traditionellen chinesischen Medizin. Die Chinesen wissen sehr genau, wie groß der „Hunger“ nach der traditionellen chinesischen Medizin in Europa und den USA ist. Einen wirklich guten und bescheidenen Fachmann zu finden, der zudem auch noch eng- lisch spricht, ist aber sehr schwer. Man könnte glauben, dass diejenigen, die englisch sprechen, längst in Amerika oder Europa sind, wo sie sich ihren Lebensstandard aufbessern. Ein echtgläubiger Chinese würde aber niemals emigrieren oder gar ins Ausland gehen, um zu heilen. Seine Standesehre erlaubt es ihm nicht, jemand anderen als einen Chinesen zu heilen. Und für Reichtum würde er es schon gar nicht machen. Denn auch in China gibt es sehr viele bedürftige Kranke und gute Ärzte gibt es überall zu wenig. Deshalb ist auch das Niveau der chinesischen Ärzte, die außerhalb Chinas praktizieren nicht hoch und unter den Chinesen werden sie mit dem Schimpfwort „kommerzieller Arzt“ betituliert. Die Situation ist bei uns nicht besser, denn nicht selten geben sich verschiedene chinesische Masseure als Ärzte der traditionellen chinesischen Medizin aus und kompromittieren damit nur deren guten Namen. Man muss einen Prozess des Austestens durchlaufen, bevor man die Spreu vom Weizen trennt und sich von kommerziellen Erträgen und Dogmen befreit.

Es gab in China einen Arzt, der zu sagen pflegte, dass die traditionelle chinesische Medizin einfach zu erlernen und zu begreifen ist, da sie verständlich und logisch sei. Weitaus schwieriger sei es aber, sie in der Praxis durchzuführen. Im Gegensatz dazu ist die westliche Medizin in ihrem Studium und dem Einprägen der vielen Begriffe schwierig. Ihre Durchführung ist in der Praxis aber wesentlich leichter und einförmiger, da es zu bestimmten Stereotypen kommt. Urteilen Sie letztlich selbst.

Der Weg der Erkenntnis

Mein Kollege und ich hatten das Glück, während unseres Studiums der traditionellen chinesischen Medizin in China einen Professor nach unseren Vorstellungen gefunden zu haben. Er konnte zwar kein Englisch, aber mit einem Dolmetscher absolvierten wir die Vorlesungen wie im alten China.

Vormittags absolvierten wir ein Praktikum an der Klinik für traditionelle chinesische Medizin, die als offizielle Schulungsklinik für traditionelle chinesische Medizin den westlichen Studenten offen steht. Die Nachmittage, Abende, einschließlich Samstag und Sonntag, verbrachten wir mit Privatvorlesungen. Sie betrafen vor allem Ausdruck und Behandlung von Krankheiten gemäß der traditionellen chinesischen Medizin mit besonderem Augenmerk auf die Kräuterbehandlung, die auch der wichtigste Bestandteil bei der Behandlung und damit einen Stützpfeiler der traditionellen chinesischen Medizin darstellt.

Die Chinesen teilen nicht mehr mit und sind auch nicht bereit mehr mitzuteilen, als Sie selbst z.B. übers Internet und aus allgemein geschriebenen Büchern über traditionelle chinesische Medizin erfahren können. Eine einzige Ausnahme würde ich trotzdem gern erwähnen. Von den verschiedenen englisch und deutsch geschriebenen Büchern, die jemals über traditionelle chinesische Medizin erschienen sind, hebt sich ein Autor wesentlich von den übrigen ab. Er heißt Giovanni Maciocia, ein Engländer italienischen Ursprungs, der chinesisch erlernte, an chinesischen Universitäten traditionelle chinesische Medizin studierte, in Großbritannien publizierte und die traditionelle chinesische Medizin unterrichtete. Am Ende seiner Karriere entschied er sich, einige tausendseitige Bücher über seine langjährige Praxis herauszugeben. Dieser Mann und Pionier der traditionellen chinesischen Medizin in Europa ist viel gelesen und selbst im Reich der Mitte – in China – anerkannt. In präziser und detaillierter Vorgehensweise arbeitete er ein systematisches Lehrbuch über Theorie und Praxis der traditionellen chinesischen Medizin aus. Denn diese Medizin kann man nicht lernen, ohne sie in der Praxis anzuwenden.

Der Arzt sollte nach den Vorstellungen der Chinesen vor allem Geduld, Empathie (d.h. Einfühlungsvermögen in die Probleme des Patienten) aber auch Intuition (als Intuition wird hier eine Art sechster Sinn verstanden) mitbringen. Ein grundlegender Charakterzug des Arztes muss Liebenswürdigkeit sein. Natürlich sollte ihm nicht nur an Gutmütigkeit liegen. Es ist auch notwendig etwas zu können, wenn möglich Talent zu haben und gewissenhaft zu sein. Wichtig sind aber auch Hartnäckigkeit und Ergebenheit gegenüber der Arbeit. Aber selbst wenn ein Arzt all diese Eigenschaften besitzt, aber nicht fähig ist, mit dem Kranken mitzufühlen, ist es besser einen solchen Arzt als professionell untauglich abzuschreiben. In einem solchen Fall wäre es sinnvoll, wenn dieser Arzt nicht mit Patienten, sondern im Labor oder im Anatomiesaal arbeiten würde. Wo- mit ich aber nicht sagen möchte, dass dort nur Menschen arbeiten, die nicht gelehrig oder unfreundlich sind! Als wir 1990 in Prag an der Sinologischen Universität mit dem Studium begannen, starteten in der damaligen Euphorie etwa 250 Studenten mit uns, die Schulbank zu drücken. Nach einigen Jahren erreichten ungefähr 30 von ihnen die Abschlussprüfung, wovon 10 erfolgreich bestanden. Nur zwei begannen, diese Medizin in der Tschechischen Republik hauptberuflich zu praktizieren. „ Das Schwert kann scharf sein, wenn du es aber nicht schleifst, wirst du nichts ausfechten. Du kannst großes Talent haben, wenn du aber nicht lernst, entwickelt es sich nicht.“

Es gibt einige, die sich bestimmte Kenntnisse über die traditionelle chinesische Medizin angeeignet haben. Wenn sie aber keine Ärzte sind, kennen sie die Wirkungen und Charakter der westlichen Arzneimittel nicht ausreichend. Entweder raten sie dem Patienten, alle Medikamente wie bisher einzunehmen, da sie ihre Bedeutung nicht hundertprozentig beurteilen können. Oder aber sie verurteilen alle Arzneimittel ohne Unter- schied als giftige Chemikalien, die dem Körper nur Schaden zufügen und setzen sie sofort ab. Im ersten Fall können die chinesischen Heilkräutertees in der Kombination mit chemischen Medikamenten ihre Wirkung nicht entfalten, im zweiten Fall kann das Absetzen lebenswichtiger Medikamente fatale Folgen nach sich ziehen.

Eine andere Hürde entsteht bei der Eingliederung chinesischer Ärzte in Europa durch die Sprachbarriere und Unkenntnis europäischer Medikamente und deren Wirkungen. Dies wird immer ein schwer zu beseitigendes Hindernis darstellen und bringt das Risiko der Diskredition dieser Methode in Europa mit sich. In Deutschland wird dieses Hindernis überwunden, indem in den Kliniken der traditionellen chinesischen Medizin gleichzeitig deutsche Ärzte der westlichen Medizin mit chinesischen Ärzten zusammenarbeiten und der Übersetzer ausnahmslos alles begleitet. Nur so können positive Ergebnisse erreicht werden. Ich persönlich gehe in meiner Sprechstunde so vor, dass ich dem Patienten im ersten Monat seine Medikamente lasse, wie sie eingeführt sind. Bei der nächsten Kontrolle werden dann schrittweise (je nach Besserung) die Arzneimittel abgesetzt, bei denen ich mir eine Reduzierung erlauben kann. Es gibt natürlich auch Medikamente, die das ganze Leben über eingenommen werden müssen, da an ihnen wortwörtlich das Leben des Patienten hängt. Nicht selten kommt es vor, dass der Patient mit einer Liste von zehn oder fünfzehn Medikamenten kommt, die er womöglich schon seit zehn Jahren einnimmt. Er ist wie auf eine bestimmte Frequenz eingestellt und jeder massive Eingriff in die Medikation ruft eine entsprechende Reaktion hervor, d.h. meistens eine Verschlechterung des Zustands und Aufwallen der Krankheit. Damit muss bei einer länger andauernden Medikation gerechnet werden und man muss sich sehr sanft um eine genaue Bestimmung des Zustands bemühen. Wenn wir darüber nachdenken, wie das erste mit dem zweiten Medikament reagiert, das zweite mit dem dritten, das dritte mit dem ersten oder gar mit dem zehnten, dann läuft es uns kalt den Rücken hinunter. Die heutige Medizin kennt für jedes Krankheitsanzeichen ein Medikament und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Aber manchmal lässt sich nur schwer unterscheiden, welche Anzeichen durch eine Erkrankung verursacht werden und welche durch eine Nebenwirkung der chemischen Medikamente bzw. durch deren Unverträglichkeit untereinander. Deshalb nimmt man auch in der heutigen zivilisierten Welt Abstand von massiven Antibiotika– bzw. Hormonbehandlungen, auch wenn der Einfluss der internationalen Lobby der Pharmaziefirmen noch immer riesig ist. Und trotzdem zeigt sich die erste Friedenstaube in Form einer Statistik aus den USA und Großbritannien, die aufzeigt, wie viele Menschen auf Grund einer übermäßigen oder ungeeigneten Einnahme chemischer Medikamente stationär behandelt werden mussten oder starben. Die Behandlung sollte nicht schlimmer als die eigentliche Erkrankung selbst sein. Schon Hippokrates sprach: „Die einzige große Aufgabe der Medizin ist, den Patienten zu heilen und es ist völlig gleichgültig, auf welche Art und Weise dies gelingt.“ Dies sollten sich all diejenigen bewusst machen, die heute gegen die „nicht wissenschaftlichen Methoden und Scharlatanerie“ der alten Zivilisationen zu Felde ziehen. Eine unverantwortliche Beziehung des Menschen zur eigenen Gesundheit wird außerdem durch die Reklame neuer Medikamente und der medizinischen Erfolge gefestigt.

Die chinesische Sichtweise der Welt

Wollten wir einen Schlüsselbegriff finden, der die Einstellung der Chinesen gegenüber der Welt ausdrückt, so wäre es ein Begriff wie Änderung, Entwicklung, Nicht–auf–der–Stelle–Treten bzw. Nicht–Festhalten am Ort. Kurzum ein dauernder Prozess der Veränderungen. Wenn wir etwas kennen lernen wollen, müssen wir es zuerst verstehen. Verstehen können wir nur logische Gedankengänge. Wollen wir aber die Gedankengänge der Chinesen begreifen, müssen wir sie in der praktischen Anwendung betrachten. Die Chinesen er- kennen als Faktum an, dass die Regeln unserer Existenz (Naturgesetze und Menschengesetze) gleich sind. Sie finden Bestätigungen ihrer Gedanken und Taten in der Beobachtung der Welt, die sie umgibt. Begriffe chinesischer Weiser sind voller Beispiele des täglichen Lebens. Die Chinesen stellen sich niemals die Frage, wie etwas funktioniert, sondern warum das so ist. Und sie stellen es fest durch langfristiges Beobachten der Welt, in der sie leben. Die Fähigkeit der Beobachtung gilt in China als höchste Qualität des menschlichen Geistes. Es geht gleichzeitig um Analyse und Synthese der Situation, um Stellungnahme und Lehre. Zur Illustration führe ich ein Beispiel eines Edelsteinschleifers an. Der Edelsteinschleifer muss zuerst den Stein, den er bearbeiten will, sorgfältig betrachten und untersuchen, um ihn bei der Arbeit nicht zu zerbrechen. Teilung in Stücke auf der einen Seite, Forschung auf der anderen Seite. Als Gegensatz dazu verfolgen wir einmal die Vorgehensweise eines griechischen Töpfers, der den Ton nimmt, ihn zermalmt und nach seinen Vorstellungen formt. Der Geist des Edelsteinschleifers bemüht sich, die Hauptlinie des Bruchs zu verfolgen, gleichzeitig aber auch den Gedanken, der im Stein verborgen liegt. Davon leitet er seine Vorgehensweise ab. Es geht also nicht so sehr darum, die Sachen zu teilen und zu zählen, sondern deren Lauf zu beobachten und uns danach zu richten. Wir könnten sonst miteinander in Konflikt geraten.

Die chinesischen Gedankengänge formen sich also durch ständige sorgfältige Beobachtung der Welt. So war es ihnen möglich, auch allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, nach denen sich alles richtet – sowohl die Staaten, die Familien und Menschen, deren Gesundheit, moralische Grundsätze wie auch die Naturkräfte. Davon lassen sich dann die Erfolge der chinesischen Medizin ableiten. Sie basieren auf konstanten Regeln, die aus langfristigen Beobachtungen hervorgehen und auf der Kombinationsfähigkeit des Therapeuten. Die traditionelle chinesische Medizin lässt sich mit einem Schachspiel vergleichen. Die Spiel- regeln (Untersuchungsmethoden und Behandlung) sind fest vorgegeben, die Anzahl der Züge (Entwicklung der Krankheit) ist natürlich von Fall zu Fall verschieden und deren Kombination ergibt sich daraus, welchem Gegenspieler (Patient) wir gegenüber stehen. Ähnlich ist es auch mit der Diagnose und Behandlung nach der traditionellen chinesischen Medizin und beim chinesischen Edelsteinschleifer ebenfalls. So wie ein guter Schachspieler oder chinesischer Edelsteinschleifer abwägt, so verhält sich auch ein guter chinesischer Arzt. Das westliche Verständnis der Welt kommt eher den Gedankengängen des griechischen Töpfers nahe, der die Dinge seiner Vorstellung anpassen möchte.

Die chinesische Lebensauffassung lässt sich so zusammenfassen: „Hast du einen Grund zur Freude – dann freue dich und vergeude nicht deine Zeit. Verschwende sie nicht mit Streitigkeiten über Geld, sorge dich nur um Kleidung und Essen, lass im Geist nicht Griesgram und Ärger gären.“ – das wäre nur zum Nachteil qualitativ gelebten Lebens. Deshalb wird in der chinesischen Kunst und vor allem auf Bildern großer Wert auf die Ausmalung kleiner Details gelegt. Sie kennen bestimmt chinesische Bilder, auf denen ein Zweiglein und eine perfekt detailliert dargestellte Fliege oder Vögelchen abgebildet sind, sodass es den Anschein hat, als wäre dies der wichtigste Punkt des Werkes. Es kann auch ein kleines Blümchen sein, das ihnen irgendwie ins Auge fällt. Es ist ebenfalls interessant, wie ältere Meister das menschliche Wesen in der Natur malten. Die Natur ist immer als etwas Großes, Würdevolles abgebildet und darin verliert sich nahezu eine kleine menschliche Figur, die Sie auf den ersten Blick gar nicht bemerken würden. Das hängt mit der chinesischen Vorstellung und ihrem Bezug zu der sie umgebenden Welt, sowie mit der Demut gegenüber der Natur zusammen. Der Mensch ist ein Teil der Natur, die alles Übrige bestimmt. Seine Macht und Kraft ist bei einem solchen Ver- gleich gering und vergänglich und alles wird von den Naturgesetzen regiert. Der Mensch stellt hier einen Mikrokosmos dar, das Land, der Himmel (d.h. Weltall) hingegen einen Makrokosmos. Nach der taoistischen Philosophie ist das Land dem Yin zugeordnet, da es die ernährende, verankernde Funktion hat. Der Himmel hingegen hängt mit aktivem geistigem Standpunkt zusammen – wird also dem Yang zugeordnet – und der Mensch bewegt sich zwischen diesen beiden Polen.

Es ist nichts definitiv und es gilt nichts absolut, alles fließt ständig und entwickelt sich, jede Aktion ruft eine Reaktion hervor, jeder Verbrecher Strafe und alles regelt sich früher oder später von selbst. Auch nach den größten Entbehrungen und Kriegen kommen wieder Tage der Ruhe und des Friedens und auch nach dem härtesten Winter kommt früher oder später – und darauf ist Verlass – der Frühling und mit ihm Wärme und Sonnentage. Genau so wie sich Yin und Yang abwechseln. Einen vollendeten Ausgleich zwischen Yin und Yang wird es natürlich niemals geben. Denn wären die Zünglein an der Waage des gedachten Yin und Yang im Leben ausgeglichen, so würden wir nicht leben, sondern wären tot. Das Pendel wäre zum Stillstand gekommen. Das menschliche Leben und die Gesundheit leiten sich von den vorgegebenen Banden ab, die bestimmen, wie weit Yin und Yang ausschlagen, ohne dass es dem Menschen schadet. Im Idealfall kommt eine Art Sinuskurve zustande, die beim gesunden, ausgeglichenen Menschen ihren regelmäßigen Verlauf immerzu wiederholt (siehe Abbildung). Stört der Mensch aus irgendwelchen Gründen sein Gleichgewicht (z.B. durch negative Emotionen, schlechte Lebensführung usw.), schlägt die Kurve über die Bande. Dieser Zustand wird vorklinische Phase der Erkrankung genannt, in der sich der Mensch nicht gesund fühlt und sich

z.B. verschiedene Schmerzen, Müdigkeit und psychische Verstimmung zeigen. Bei westlichen medizinischen Untersuchungen können weder im Labor noch röntgenologisch irgendwelche Abweichungen von der Norm festgestellt werden. „Der Kluge bezeichnet die Gefahr, bevor sie klare Konturen annimmt, der Weise nimmt die Gefahr wahr, bevor sie deutliche Signale sendet“. Gesundheitszustand = Phase 0, vorklinischer Zustand

= Phase 1, klinische Erkrankung = Phase 2.

Prävention, vorklinische Phase der Erkrankung

In der vorklinischen Phase muss der Patient, der sich wegen vielleicht noch mäßiger Beschwerden in westliche medizinische Behandlung begibt, paradoxerweise noch ein Weilchen warten (manchmal auch einige Jahre), bis sich die Krankheit endlich im Blut oder auf dem Röntgenbild nachweisen lässt. Von der Betrachtungsweise der traditionellen chinesischen Medizin her ist das eine sehr seltsam anmutende Situation (allerdings nicht für den Patienten). Die westliche Medizin stempelt den Patienten möglicherweise schon als Hypochonder ab, da die zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden keinerlei Pathologie aufweisen. Also muss das Problem im Patienten liegen. Und dort lässt es sich auch finden und beheben! Das Problem ist nur, dass bislang die westliche Medizin nicht mit der östlichen Medizin zusammenarbeitet, um so nach gegenseitiger Absprache das Beste von beiden Methoden für den Patienten zu wählen. So erreicht der Patient endlich das Stadium der klinischen Erkrankung mit allen Begleiterscheinungen einschließlich der positiven Labor– und Röntgenbefunde. Das ist dann allerdings für die traditionelle chinesische Medizin reichlich spät.

„Grabe den Brunnen nicht erst, wenn du vor Durst stirbst.“ Hier löscht man nur noch mehr oder weniger erfolgreich einen Brand, der bereits einen wesentlichen Teil des Organismus befallen hat, und nur selten gelingt es, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.

Die chinesische Ärzteschaft schätzt die westliche Medizin in Krisensituationen, bemüht sich aber, zur traditionellen Behandlung zurückzukehren, sobald dies möglich ist. „Wo es notwendig ist, wende die westliche Medizin an – wo es möglich ist, die traditionelle Medizin“. Das Ziel der traditionellen chinesischen Medizin ist im Wesentlichen die Erhaltung der Gesundheit bei Gesunden und die Rückkehr zur Gesundheit bei Kranken. Die Vorstellungen von Gesundheit sind in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen voneinander abweichend. Während wir in der westlichen Welt in der Gesundheit ein Übermaß an Energie sehen, definiert sie der Chinese als Zustand des Gleichgewichts. Der Mensch sollte sich nicht bis zur Erschöpfung treiben, denn das bedeutet eine Vergeudung der Kräfte, die erhalten bleiben sollten für eine Zeit, in der sie wirklich gebraucht werden. Es überrascht also nicht, dass Gesundheit in der chinesischen Reklame mit einem Bild dargestellt wird, auf dem ein strahlender Greis seine innere Harmonie um sich herum ausbreitet.

Die traditionelle chinesische Medizin erreicht ihre besten Erfolge in der Prävention (Erhaltung der Gesundheit) und in der vorklinischen Phase der Erkrankung, in der die Gesundheit zurückkehrt, ohne dass es zu irreparablen Schädigungen des Organismus kommt. Das deckt etwa 90 % der gesamten Wirkung der traditionellen chinesischen Medizin. In der Erkrankungsphase hingegen kann sie helfen, indem sie harmonisiert und den Zustand verbessert, die Krankheit verlangsamt oder stabilisiert, und das alles auf schonende Weise ohne Nebenwirkungen. Aber auch die Möglichkeiten der westlichen Medizin sind in manchen Fällen be- grenzt. Sie fragen sich vielleicht, warum die traditionelle chinesische Medizin in den ersten beiden Phasen so eindeutig helfen kann. Dank ihrer etwas atypischen Untersuchungsweisen und Diagnoseerstellung bemerkt sie Dinge, die anscheinend gar nichts miteinander zu tun haben und verschiedene Beschwerden und Anzeichen werden wie der Rubik–Würfel zusammengesetzt, wodurch dann gezielt (z. B. mit Hilfe von Heilkräutern) der Organismus in die richtige Richtung gelenkt werden kann. Beim gesunden Menschen kann ein guter Therapeut der traditionellen chinesischen Medizin nach der Konstitution (siehe Konstitutionstypen) und Untersuchung von Puls und Zunge feststellen, in welcher Richtung in Zukunft seine Beschwerden entstehen könnten und er harmonisiert dann mit Heilkräutern den jetzigen Zustand. Der Mensch kann schon mal voll Gas geben und mehr leisten, ebenso wie man auch mal extrem stark auf die Bremse treten muss, um auf der Stelle zu halten, aber diese Extreme dürfen nicht zu oft eintreten. Danach müssen die Exzesse sofort wieder neutralisiert werden – z.B. durch anschließende strenge Lebensführung. Die Frage von Gesundheit und Krankheit ist aus chinesischer Sicht eigentlich der Kampf zwischen der guten (Abwehr–) Energie auf der einen Seite und der schlechten (schädlichen) Energie auf der anderen Seite, so wie das ganze Leben ein unendlicher Kampf ist. Manchmal erscheint einem die Welt wie ein Dschungel, aber man muss sich immer orientieren und die richtige Richtung finden. Die Entstehung der Krankheit hängt mit der Stärke und Dauer der Einwirkung „schädlicher“ Energie (Xie Qi) zusammen, die Gesundheit mit der Stärke und Festigkeit der Abwehrenergie (Wei Qi). Ein einfaches Beispiel hierzu kann die Erkältung im Winter sein. Nach der traditionellen chinesischen Medizin ist der „Angriff äußerer schädlicher Kälte“ schuld daran, die sich auf der Oberfläche des Körpers ansiedelt. Daraus können folgende Situationen entstehen:

Jemand, dessen Abwehrenergie gut ist (dank der Lebensführung, Abhärtung, psychischer Ausgeglichenheit, ausreichend warmer Kleidung usw.) muss diese Probleme gar nicht bemerken oder spürt nur eine leichte Müdigkeit und „wehrt den Angriff zuverlässig ab“.

Einer, der nicht mit einer so guten Abwehrenergie ausgestattet ist, bemerkt z.B. Anzeichen einer Erkältung mit Schnupfen, Kopfschmerzen, Frösteln usw. Bei richtiger Behandlung (nach der traditionellen chinesischen Medizin „den kühlen Wind von der Körperoberfläche ausscheiden“) steht er aber nach ein paar Tagen wieder seinen Mann.

Bei jemandem, der deutlich geschwächt ist, entwickeln die gleichen Anzeichen eine schwere Grippe, die schwer zu behandeln ist und sich kurz gesagt „auf die Bronchien“ legt und mit Lungenentzündung endet. Die Rekonvaleszenz dauert sehr lange und bei älteren geschwächten Menschen kann eine solche Grippe zum Tod führen.

Der Verlauf hängt von der Einwirkungsdauer der schädlichen Energie ab. Bei einem wirklich Gesunden, wie im 1. Fall beschrieben, kann es durch langanhaltende Einwirkung, wie zum Beispiel bei einer Klimaanlage oder Durchzug, nach einiger Zeit zur gleichen Schwächung wie in Fall 2 und 3 kommen. Daraus gehen auch die Grundsätze der chinesischen Behandlung hervor: besteht ein Mangel an „guter Abwehrenergie“, muss der Organismus gestärkt werden. Besteht ein Übermaß der „schlechten schädlichen Energie“, muss diese Energie aus dem Körper eliminiert, d.h. ausgeschieden werden. Nicht nur in die Tiefe „weggedrückt“ und unterdrückt, wie es häufig bei verschiedenen chemischen Medikamenten geschieht. Der letzte Grundsatz bei der Behandlung mit traditioneller chinesischer Medizin ist der Zustand, der in der Praxis am häufigsten vorkommt: auf der einen Seite eine geschwächte gute Energie und auf der anderen Seite überwiegt die schädliche Energie. Das bedeutet, dass wir gleichzeitig die gute stärken und die schädliche Energie aus- scheiden müssen. Diese Methode nennt man Harmonisierung. In der Praxis ist es noch komplizierter. Auch in der westlichen Medizin gibt es kein Medikament, das dies gleichzeitig schaffen würde – entweder sind sie schwarz oder weiß, aber auf keinen Fall sind sie schwarzweiß (resp. deren Wirkung ist nicht so). Deshalb sind zum Beispiel Allergien problematisch zu behandeln. In der traditionellen chinesischen Medizin gilt immer der eine Grundsatz: zuerst muss immer das akute Problem gelöst und sich darum bemüht werden, die schädliche Energie so schnell wie möglich aus dem Organismus auszuscheiden. Vergleichen wir es mit einem Feld, das Sie düngen, ohne vorher das Unkraut gejätet zu haben – damit würden Sie auch gleichzeitig das Wachstum des Unkrauts anregen. Viele Menschen in Europa (im Gegensatz zu Asien) leben im Zustand des Überflusses (entweder akut oder chronisch). Deshalb muss bei diesen Patienten zum Beispiel die Methode der Drainage, Ausscheidung oder Zerstreuung angewendet werden, einschließlich der Begrenzung bestimmter Speisen und deren Menge, da sich sonst die Situation verschlechtert.

Ähnlich ist es mit verschiedenen anregenden Mitteln, besonders aber mit Multivitaminkomplexen. Die traditionelle chinesische Medizin hält Wundermittel, die zwar schnell helfen, deren Wirkung aber nicht lange anhält, für scharlatanisch. Eine konkrete Anwendung von Multivitaminpräparaten zur Stärkung des Organismus, der gleichzeitig in einem Zustand des Überflusses schädlicher Energie ist, verschlechtern den Zustand nur. Genau das drückt das oben erwähnte Beispiel der „Düngung des verunkrauteten Feldes“ aus. Also alles in Maßen. Die Aufgabe des Therapeuten der traditionellen chinesischen Medizin ist es, die richtige Diagnose zu stellen, danach die entsprechende Behandlung zu wählen, dem Patienten seine Krankheit zu erklären und ihn in den Vorgang mit einzubeziehen. In der Praxis ist das nicht immer ganz leicht. Das A und O bleibt die präventive Funktion der traditionellen chinesischen Medizin. Wir könnten das auch biblisch para- phrasieren: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Gesunder für seine Gesundheit sorgt“. So schwierig ist es, den Einzelnen davon zu überzeugen, für das Wertvollste zu sorgen, was er hat – für seine Gesundheit.